Jakob ist 51 und hat einen guten Job. Seine Eltern sind stolz auf ihn, er war schon immer klug und lernbegierig. Jakob besucht seine eine gute Stunde Fahrzeit entfernt lebenden Eltern nicht sehr häufig. Es ist bei seinen Eltern Sitte, wenn die Familie zu Besuch kommt, ein Festtagsessen zu kochen und dies gemeinsam zu genießen.
Jakob kann diese Mahlzeiten schon lange nicht mehr tolerieren. Eine Zeit lang reduzierte er seine Besuche auf ein Mindestmaß, um nicht an den Festmahlen teilnehmen zu müssen. Mittlerweile ist sein Vater nicht mehr beweglich und Jakob kann ihn nur noch sehen, wenn er zu ihm fährt.
Jakob kam auf die Idee, seiner Mutter genaue Anweisungen zu geben, was sie für ihn zu kochen habe. Er stellte eine Liste der Lebensmittel auf, die verwendet werden dürfen. Fett und Zucker sind für ihn tabu und er sendet seiner Mutter Rezepte zu, nach denen sie für ihn kochen darf, denn falls nicht, würde er nichts essen und eventuell auch gar nicht mehr zum Besuch erscheinen.
Jakobs Mutter versteht ihren Sohn nicht mehr. Sie sorgt sich um ihn. Auf seinen Alltag hin befragt, berichtet er vor allen von einem gesunden Lifestyle. Es ist mittlerweile schwierig geworden, mit Jakob über andere Dinge eine Unterhaltung zu führen. Er hat sich mittlerweile auch sozial isoliert.
Seine letzte Partnerin zog beruflich bedingt ins Ausland, die Beziehung schlich dann sozusagen von selbst aus. Sport und ein gesunder Lifestyle sind ihm wichtig. Jakob ist täglich sportlich unterwegs und fühlt sich innerhalb seiner Sportgruppen noch am wohlsten und einigermaßen verstanden. An Tagen ohne Sporteinheiten fühlt er sich schlecht und irgendwie schuldig.
Fanatismus rund ums Essen und Lebensmittel, Unterteilung der letzteren in „gut“ und „schlecht“ bzw. „gesund“ und „ungesund“ , rigides Einhalten von Regeln beim Einkaufen, Kochen und Verzehren gehören zu einer erstmalig 1997 durch den Mediziner Steven Bratman benannten Essstörung namens „Orthorexie“.
Wikipedia sagt dazu, dass Orthorexie eine der Anorexie (Magersucht) nahestehende Essstörung sei, bei der die übermäßige Beschäftigung mit der Qualität der Lebensmittel aufgrund selbst auferlegter Regeln zu psychischen und/oder physischen Beeinträchtigungen führt.
Orthorexie findet sich bisher in keinem psychiatrischen Diagnosemanual wieder. Die Störung befindet sich noch in der Phase des Erforschtwerdens. Wissenschaftler schrieben sie zwar hauptsächlich der Gruppe der Essstörungen zu, aber sie beinhaltet ebenfalls markante Merkmale aus den Bereichen der Angststörungen, der Zwangsstörungen sowie der Hypochondrie.
Orthorektiker fallen nicht unbedingt auf. Wie viele es von ihnen gibt, ist zur Zeit noch unklar. Der Umwelt fallen Orthorektiker eher als in Bezug auf das Essen etwas verschrobene Personen oder Gesundheitsfanatiker auf, die eine bestimmte Lifestyle-Ernährung bevorzugen wie z.B. die Steinzeit-Diät, ketogene Ernährung, Veganismus, Fruitarismus oder reine Rohkost.
Orthorektiker müssen auch nicht unbedingt mager sein. Beispielsweise im Bereich von Bodybuilding und Muskelaufbau gibt es Menschen dieser Art, die nur die Ernährung zulassen, die aus ihrer Weltsicht garantiert den Muskelaufbau unterstützt.
Bei Murat, einem Endzwanziger und Kraftsportfan ging es so weit, dass er sich nur noch von Pute und Reis ernährte und darauf richtig beharrte. Als sich schließlich Mangelerscheinungen zeigten und auch der Muskelaufbau nicht mehr wie gewünscht lief, ließ er sich hinsichtlich seiner Ernährung beraten. Doch seine Überzeugungen zum Thema Essen waren so unbeirrbar in ihm eingepflanzt, dass er die Kostveränderung abbrach.
Orthorexie ist allem Anschein nach (wie gesagt, die Datenlage ist noch zu dürftig) ein weniger weibliches Phänomen als klassische Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie, bei denen der Hauptteil der Betroffenen Mädchen und Frauen sind.
Allerdings erhöht sich übrigens seit einigen Jahren auch der Anteil junge Männer bei den beiden Erkrankungen.
Der Anteil männlicher von Orthorexie Betroffener scheint jedoch weniger marginal zu sein.
Wie geraten Menschen in ein orthorektisches Verhalten?
Es ist nie nur eine Ursache alleine. Die Mischung macht es. Lebensmittelskandale, eine eigene Übergewichtskarriere, Teilnahme an Lifestyle-Diäten, übermäßiges Beschäftigen mit gesunder Ernährung und Bewegung, Body-Transformationen, Erkrankungen nahestehender Personen oder eine bereits bestehende andere Essstörung können u.a. Auslöser sein.
Auch der Glaube, der in vielen Teilen unserer Gesellschaft verbreitet ist, dass allein die richtige Ernährung ewige Gesundheit garantiere, sofern man sie nur finde und bereit sei, sich ihr unterzuordnen, kann ein Puzzlestein sein.
Der Wunsch, sich endlich in sich selbst zu finden, sein körperliches Schicksal wirkungsvoll in der eigenen Hand zu haben, fähig zu sein, asketisch zu leben und sich nicht nur physisch sondern auch sittlich so zu verbessern, so dass diese Aufopferung einem schließlich den höchsten Lohn ewiger Gesundheit und Beweglichkeit ermöglicht wirken fast religiös.
Nur dass diese Art der Religion nicht liebevoll ist. Orthorektiker sind viel mit Büßen beschäftigt. Das Stück Torte anlässlich von Omas 80. Geburtstag wird nicht genossen, sondern mit noch härteren Sporteinheiten abgebaut. Gedanken der Schuld und Ängste machen sich breit. Betroffene versuchen diese durch noch konsequenteres und noch gesünderes Verhalten zu kompensieren, sie legen sich noch rigidere Rituale auf, um ja nicht wieder auf die „schiefe Bahn des Genusses“ zu geraten und ihr Fehlverhalten zu neutralisieren.
Das Eis, das Betroffene davon trennt, doch in eine Magersucht zu fallen und /oder Zwänge und Ängste zu entwickeln ist hauchdünn.
Noch nie gab es so viele Erkenntnisse über Lebensmittel und Nährwerte, noch nie gab es so viele Ernährungsformen und Lifestyle-Diäten wie heute und noch nie war das Angebot, sich mit Gleichgesinnten zu jeder Zeit via Social Media kurzzuschließen so üppig wie heute.
Doch die Masse bewirkt auch Unsicherheit. Was ist nun das richtige ? Studien kommen auf, um von anderen Studien wieder entkräftet zu werden. Der Tenor lautet: „Gut ist das, was einem selbst gut tut!“. Aber was, wenn das Gefühl für sich selbst fehlt? Wenn Opulenz verunsichert, dann kann Reduziertheit doch nur Sicherheit bringen. Wenn der reich gedeckte Tisch verwirrt, dann kann eine gezügelte Auswahl doch nur gut sein.
Auch Jakob sucht nach Sicherheit. Er will die Kontrolle über sich behalten. Murat übrigens auch.
Und dafür sind beide weiterhin zu ihrem Opfergang bereit. Dass die Orthorexie mittlerweile die wahre Kontrollmacht ist, ist ihnen nicht bewusst.
Diejenigen, die sich nicht mehr von der Orthorexie kontrollieren lassen möchten, haben die Möglichkeit, sich psychotherapeutisch betreuen zu lassen.
Bist Du schon mal mit Orthorexie konfrontiert worden? Kanntest Du den Begriff bereits? Ich freue mich über Deinen Kommentar!